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Übersicht Psychische Gesundheit Arbeiten im Sani Sanatorium Kilchberg

«Stärken Sie das Positive im Leben»

Erst Corona, jetzt der Krieg. Prof. Dr. med. Katja Cattapan erklärt in einem Interview mit Ginette Wiget, wie diese Krisen unsere Psyche beeinflussen und wie man in unsicheren Zeiten zu Wohlbefinden gelangt.
Schweizer Familie (14.04.2022), Fotos: Goran Basic

20.04.2022

«Stärken Sie das Positive im Leben»

Frau Cattapan, die Pandemie ist nicht vorbei, und nun wütet in Europa ein Krieg. Können Sie nachts noch gut schlafen?
Ja, zum Glück. Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine habe ich psychosomatisch reagiert, mit vermehrten Kopfschmerzen. Inzwischen hat sich das gelegt, auch wenn mich die Situation immer noch bedrückt. Als Mutter denke ich mir, das ist doch verrückt, dass mein Sohn jetzt in so einer Situation aufwächst. Dass es in Europa wieder Krieg gibt, damit haben wohl die meisten von uns nicht gerechnet.

Auch die Pandemie hat uns kalt erwischt. Wie haben Sie die Coronakrise bislang erlebt?
Ich bin insgesamt gut durch die Pandemie gekommen. Dabei hat mir auch mein Beruf geholfen. Ich hatte eine sinnvolle Aufgabe, die mich beschäftigte. Wir mussten dafür sorgen, den Klinikbetrieb aufrechtzuerhalten, ohne dass eine Gefahr für Mitarbeitende, Patientinnen und Patienten besteht. Ebenfalls geholfen hat mir, mich laufend zu informieren und zu erfahren, wie man sich gegen das Virus schützen kann. Ich hatte auch das Glück, dass niemand in unserer Familie schwer an Corona erkrankt ist. Zudem gab es für mich auch positive Seiten der Pandemie. Ich hatte weniger Abendtermine, und mein Mann war mehr zu Hause als sonst. Er ist Musiker, und viele Auftritte fielen aus. Wir haben die freie Zeit als Familie bewusst genutzt und dabei von guten Bedingungen profitiert, die andere nicht hatten. Wir leben in einem Haus mit Garten und wohnen nahe am Wald.

Was fanden Sie rückblickend besonders schwierig?
Für mich und meinen Mann war es in der ersten Phase belastend, dass unsere Angehörigen im Ausland leben. Wir wussten, wenn ihnen etwas passieren sollte, können wir nicht zu ihnen. Was mich in der Krise zudem irritierte, war die Beobachtung, dass evidenzbasiertes Wissen so wenig zählt und dass sich so viele Falschbehauptungen durchsetzen konnten. Enttäuscht hat mich auch, dass die psychische Gesundheit kein wichtiger Teil der Pandemiestrategie war, zumindest war sie für mich zu wenig erkennbar.

Was hätten Sie von der Politik erwartet?
Aus der Katastrophenforschung ist bekannt, welche Massnahmen in der Bevölkerung psychische Belastungen oder gar Traumatisierungen verhindern können. Eine wichtige Intervention ist die Förderung von physischer Sicherheit. Dazu gehört etwa, dass Regierung und Behörden klar kommunizieren, anstatt der Bevölkerung zu verschweigen, dass Masken nützen. Auch von Interventionen, welche die soziale Verbundenheit fördern, war wenig zu spüren. Ich hätte mir rückblickend mehr nationale Vorgaben gewünscht, damit die Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen ihre Kontakte aufrechterhalten können. Allgemein wurde die psychische Gesundheit sehr individualisiert: Wer belastet ist, soll sich Hilfe holen. Man muss in einer Krise nicht alle in die Psychotherapie schicken, auch die Regierung kann mit solchen Massnahmen etwas tun, um psychisches Leid zu verhindern.

Gab es auch Dinge, die unsere Regierung aus psychologischer Sicht gut gemacht hat?
Ich empfand die Kommunikation insgesamt als nicht alarmistisch, sondern eher hoffnungs- und zukunftsorientiert. Zuversicht auszustrahlen, ist ein Faktor, der die psychische Belastung in der Bevölkerung verringern kann.

Weiss die Forschung inzwischen genauer, welche Folgen die Pandemie für die psychische Gesundheit hat?
In der Wissenschaft sprechen wir von einer Zwillingsepidemie von Covid-19 und psychischem Leiden. In der ersten Phase haben Angststörungen zugenommen. Im weiteren Verlauf gab es mehr Depressionen, oft als Folge der Ängste oder der Einsamkeit. Auch posttraumatische Belastungsstörungen und Zwangsstörungen haben zugenommen. Ebenfalls häufiger wurden stressbedingte Erkrankungen wie Burn-out oder Schlafstörungen, vor allem in der ersten Phase des Lockdowns mit Homeschooling und Homeoffice.

Wie stark haben Ängste und Depressionen zugenommen?
Eine der grössten und aussagekräftigsten Studien erschien im Oktober 2021 im renommierten Wissenschaftsjournal «Lancet». Sie zeigte, dass Angst und Depression im ersten Jahr der Pandemie weltweit um rund ein Viertel zugenommen haben. In Zahlen ausgedrückt heisst das, ohne Pandemie hätten die Forschenden weltweit mit 193 Millionen Fällen von Depression gerechnet und mit 298 Millionen Fällen von Angstzuständen. Tatsächlich waren es vergangenes Jahr geschätzte 246 Millionen Fälle von Depressionen und 374 Millionen Fälle von Angstzuständen.

Wie viele von diesen Menschen werden zu einem «normalen» Leben zurückfinden?
An sich sind Ängste und Depressionen meist gut behandelbar, wenn die Menschen die nötige Hilfe bekommen. Ich hoffe zudem, dass die Krisenzeit irgendwann vorbei sein wird und die psychische Belastung abnimmt.

«Die Situation ist für manche jetzt noch schwieriger, da man den Krieg als Einzelner nicht beeinflussen kann.»

«Die Situation ist für manche jetzt noch schwieriger, da man den Krieg als Einzelner nicht beeinflussen kann.»

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